Über Klassikerbezüge in der deutschen Taijiquan-Literatur

Von Martin Bödicker


In der deutschen Taijiquan-Literatur finden sich häufig kleine Anekdoten oder Anspielungen, bei denen auch der westliche Leser schnell Bezüge zu chinesischen Klassikern vermutet. Hier zwei Beispiele und ihre Ursprünge.


„Als Zhang Sanfeng von einigen jungen Schülern über diese Prinzipien [Weichheit und Beständigkeit] befragt wurde, streckte er als Antwort seine Zunge heraus. Die Schüler verstanden ihn nicht. „Habt ihr meine Zunge gesehen?“ „Ja“, antworteten sie. „Habt ihr meine Zähne gesehen?“ „Du hast ja gar keine mehr!“ lachten sie. „Eben. Die Zunge ist weich und geschmeidig, sie war immer da und wird immer da sein. Die Zähne sind hart, sie haben keinen Bestand und fallen am Ende aus." (Anders, S. 20 f)


Diese Anekdote ist sicherlich vom daoistischen Huainanzi aus vorchristlicher Zeit inspiriert, wo es heißt:

 

„Eine Waffe, die zu steif ist, wird bersten.

Ein Stück Holz, das zu hart ist, wird brechen.

Ein Stück Leder, das zu spröde ist, wird reißen.

Die Zähne, härter als die Zunge, erleiden zuerst Schaden.

Daher:

Das Weiche und das Schwache sind der Stamm des Lebens.

Das Harte und Starke sind die Schüler des Todes.“ (Bödicker, S 47)


Als Tipp für den Taijiquan-Anfänger findet man folgendes Zitat:


„Wenngleich das Tai Chi Chuan im philosophischen Gedankengut Asiens wurzelt, sollte man sich vor einer Mystifizierung oder Überhöhung geistiger Aspekte hüten. Tai Chi Chuan lebt durch seine große Natürlichkeit und so wie man an einem Getreidehalm nicht ziehen würde, um ihn zu schnellerem Wachstum zu bewegen, so sollte man sich auch im Tai Chi Chuan Zeit lassen und Schritt für Schritt mit Achtsamkeit voranschreiten.“ (Engel, S. 124)


Das Gleichnis mit dem Getreidehalm findet sich auch beim Konfuzianer Mencius, wo ein Bauer wegen seiner unangemessenen Eile angeprangert wird: Dieser Mann „war traurig darüber, dass sein Korn nicht wuchs, und zog es in die Höhe. Ahnungslos kam er nach Hause und sagte zu den Seinigen: Heute bin ich müde geworden, ich habe dem Korn beim Wachsen geholfen. Sein Sohn lief schnell hinaus, um nachzusehen, da waren die Pflänzchen alle welk.“ (Men 2A/2, 55)

 

Diese zwei Beispiel zeigen recht schön, wie chinesisches Gedankengut Eingang in die deutsche Taijiquan-Literatur gefunden hat. Sicherlich ist dabei den Autoren das eine oder andere Mal dieser Vorgang gar nicht bewusst. Das ist aber auch gar nicht schlimm, so lange, wie in diesen Fällen, die Verwendung in ihrem Inhalt mit dem Inhalt der Quelle übereinstimmt.


Anders Frieder, Tai Chi Chuan, Econ, Düsseldorf 1994

Bödicker, Martin, Innere Übung - Neiye - Das Dao als Quelle - Yuandao 

Engel Siegbert, Tai Chi, BLV Verlag, München 2004