Tai Gongs sechs geheime Lehren


von Martin Bödicker


Schon seit frühesten Zeiten war im chinesischen Militär die Theoriebildung ein wichtiges Thema. Es existiert eine Anzahl an Schriften von Generälen und Strategen. Diese Schriften waren ursprünglich geheim, wurden als gefährlich angesehen und der private Besitz war verboten. Gerade auch Personen, die dem Kaiser nahe standen, war der Zugang verwehrt worden, da die Gefahr bestand, dass sie den Kaiser zu stürzen versuchen. Da die militärischen Schriften vor ihrer Aufzeichnung meist über eine lange Zeit mündlich tradiert wurden, sind die Autoren und das Entstehungsdatum oft nicht sicher festzustellen. In der Song-Zeit (960 – 1279 n. Chr.) wurden die wichtigsten Schriften zu den Sieben militärischen Klassiker (Wujing qishu) zusammengefasst und als zentrales Werk in der militärischen Ausbildung eingesetzt.


Im weiteren Rahmen der Militärausbildung finden sich auch die chinesischen Kampfkünste. So heißt es z.B. im folgenden Zitat des General Qi Jiguang (1528 – 1587) aus seinem berühmten Buch Effektive neue Methoden in der Wissenschaft des Krieges (Jixiao xinshu) im Kapitel Leitfaden zumFaustkampf:


„Die Techniken des Kampfes mit der bloßen Hand haben scheinbar wenig Bedeutung für die Wissenschaft des Massenkrieges. Aber aus der Sicht des Trainings der Gliedmaßen und des Körpers sind sie die beste Einführung. Aus diesem Grund fügen wir sie an das Ende dieses Werkes, um den Anforderungen des Meisterns der Kunst des Krieges vollständig zu entsprechen.“ (Wile, S. 18)


Auch Taijiquan-Meister pflegten Kontakt zum Militär und hatten so sicherlich Zugang zu den Schriften der Strategen. Ein Ideal im Taijiquan ist die Verbindung des Kulturellen (wen) mit dem Kämpferischen (wu). Die Entwicklung von Vorstellungen zum Kulturellen sind intensiv von Gedanken der chinesischen Philosophie beeinflusst worden. Dagegen ist in der Theoriebildung zum Kämpferischen sicherlich auf Schriften der Strategen aus dem Militärbereich zurückgegriffen worden, wie z.B. auf folgenden Text:



Tai Gongs sechs geheime Lehren (Tai gong liutao)


Tai Gong gilt in China als der erste große General und der Ahnvater der Strategemik. Im 11. Jahrhundert v. Chr. soll er den Königen Wen und Wu der Zhou-Dynastie politischen und militärische Ratschläge gegeben haben, um die bis dahin herrschende Shang-Dynastie zu besiegen. Diese Ratschläge werden in dem Werk „Tai Gongs sechs geheime Lehren“ überliefert. Das Werk beschäftigt sich im wesentlichen mit drei Aspekten. Den politische Rahmenbedingungen, strategischen Gedanken und Kampftaktiken. Im politischen Teil des Werkes zeigt sich Tai Gong ganz als ein Verfechter des gütigen Herrschers, der zum Wohle des Volkes regiert. Um dem König dieses zu ermöglichen, empfiehlt Tai Gong eine starke Bürokratie, die den Staat kontrolliert. Die Grundlage dieser Bürokratie sollte die Moral und das persönliche Vorbild sein. Diese Regeln gelten aber nur nach innen. Nach außen gegenüber anderen Staaten gibt es keine Regeln und alle Mittel, auch Bestechung, Verführung durch Frauen und Alkohol sind erlaubt.


Im größeren Teil des Buches widmet Tai Gong sich Fragen der richtigen Organisation und Ausbildung einer Armee und der richtigen Kampftaktik. Tai Gong analysiert hierbei viele verschiedene Kampfsituationen z.B. nach Truppenstärke, psychologischer Situation der Truppe, Angriff, Verteidigung, Terrain, Kampfzeit, usw.. Hier ein kleines Beispiel:

 

„König Wu fragte Tai Gong: ´Wenn der Feind uns umzingelt hat und, sowohl unseren Vormarsch als auch unseren Rückzug blockiert und unsere Versorgungslinien durchbrochen sind, was sollen wir dann machen?`


Tai Gong sagte: ´Das ist die höchst bedrängte Armee der Welt. Sie müssen sie explosiv einsetzen; wenn Sie sie langsam einsetzen, werden Sie besiegt. In dieser Situation müssen Sie einen Sturmangriff an allen vier Seiten ansetzen; benutzen Sie zum Beginn die Kampfwagen und die Reiterei um den Gegner zu verwirren und wenn Sie dann sofort angreifen, können Sie durchbrechen.`“

(Sawyer, S. 80)


In einem kleineren Teil seines Werkes beschäftigt sich Tai Gong mit der abstrakten Strategie der Auseinandersetzung. Viele seiner Gedankengänge aus diesem Bereich enthalten gleiche Begriffe, wie sie sich in Taijiquan-Klassikern finden. Folgende Gegenüberstellung gibt einen Eindruck davon:


Tai Gong: „Beim Planen ist nichts wichtiger, als nicht erkannt zu werden.“

Der Klassiker des Taijiquan: „Der Andere kennt mich nicht, ich allein kenne den Anderen.“


Tai Gong: „Er [der Weise] ist in Übereinstimmung mit dem dao von yin und yang.“

Der Klassiker des Taijiquan: „Yin und yang ergänzen einander. Das ist der Weg zur zum Verstehen der jin-Kraft.“


Tai Gong: „Er [der Weise] folgt dem Zyklus von Voll und Leer von Himmel und Erde.“

Das Lied der 13 Grundbewegungen: „Der gegenseitige Wandel zwischen Leer und Voll muss beachtet werden.“


Tai Gong: „Der strategische Vorteil (shi) entsteht in Übereinstimmung mit den Bewegungen des Gegners.“

Abhandlung zum Taijiquan: „Durch Vordringen und Zurückweichen erlangt man die günstige Gelegenheit und den strategischen Vorteil (shi).“

(Tai Gong Zitate bei Sawyer, S. 68 f)


Tai Gong ist ein gutes Beispiel für die Gedankenwelt der Strategen. Man erkennt an der Parallelität der Gedankengänge deutlich, dass die Taijiquan-Klassiker den Geist der Strategen atmen. Dies läßt die Annahme zu, dass die Autoren der Taijiquan-Klassiker die Texte der Strategen kannten und als Quelle der Inspiration verwendeten.



Sawyer D. Ralph, The Seven military classics of ancient China, Westview Press, Colorado 1993

Wile Douglas, T´ai Chi´s Ancesters, Sweet Ch´i Press, New York 1999