Über Leichtigkeit reden


Von Xu Wen

Aus dem Vereinsmagazin Nr. 15/16, S. 16 der Jianquan Taijiquan Association Shanghai vom 1.12.1985



Die Leichtigkeit (qing) ist ein äußeres Merkmal der Taijiquan-Form. Man kann aber auch sagen, sie ist ein natürlicher Ausdruck aller Taijiquan-Bewegungen. Die Abhandlung zum Taijiquan (Taijiquan lun) beginnt mit dem Satz: „In jeder Bewegung muss der Körper leicht und gewandt (ling) sein.“ Die zwei Schriftzeichen für „leicht“ und „gewandt“ werden bei ihrer Verwendung oft miteinander verbunden, denn wenn man Leichtigkeit erreicht, erlangt man auch sogleich Gewandtheit. Das Gegenteil von Gewandtheit ist Stockung und Schwere. 


Wenn man von Leichtigkeit spricht, bedeutet das nicht, dass man den Gebrauch von Kraft nicht nötig hat oder dass man keine Kraft hat, sondern man hat Kraft, gebraucht sie aber nicht. Die jin-Kraft des Taijiquan wird innen gehalten und ist außen nicht sichtbar. So heißt es: „Wenn die jin-Kraft in der Beugung gesammelt wird, ist sie im Überfluss da.“ Ob man die Form oder das Pushhands übt, jin-Kraft bedeutet, dem Speichern, dem Neutralisieren und der günstigen Gelegenheit und dem strategischen Vorteil den Vorrang geben. Im Pushhands vermeidet man, dem Anderen die eigene Kraft spüren zu lassen.


Aber man trennt sich ganz vom Taijiquan, wenn man sagt, Leichtigkeit sei einfach das Erreichen von Treiben (fu). Leichtigkeit und Treiben unterscheiden sich in ihrem Wesen. Treiben ist wie ein Baum ohne Wurzeln, der sich mit der Strömung treiben und sich in alle Richtungen bewegen läßt. Im Buch Die Erklärung des Taijiquan (Taiji fashuo) aus der Tradition der Familie Wu stehen zur Leichtigkeit, Schwere, Treiben und Sinken folgende Sätze:


„Doppeltes Treiben ist ein Fehler, gleichsam, wie sich endlos von der Strömung tragen lassen und es ist nicht wie die Leichtigkeit. Doppelte Leichtigkeit ist kein Fehler. Sie ist natürliche, reine Gewandtheit (qingling) und verschieden vom treiben lassen.“


Die in diesem Text verwendeten zwei Zeichen „reine Gewandtheit“ können auch als Leichtigkeit und Gewandtheit verstanden werden. Doppelte Schwere ist ein Fehler, aber doppelte Leichtigkeit nicht. Die Lehre von Leichtigkeit, Schwere, Treiben und Sinken ist ein wichtiger Bestandteil der grundlegenden Theorie des Taijiquan. 


Die zwei Schriftzeichen für das Wort „natürlich“ verweisen auf das Prinzip des Wandels von Yin und Yang. In den Bewegungen des Taijiquan ist Leichtigkeit die Grundlage des Wandels von Yin und Yang. Ihre Wurzel liegt in den Füßen, in den Beinen wird sie erzeugt, durch die Taille (yao) wird sie beherrscht und die Hände und die Finger drücken sie aus. Im Körper verbindet sie Taille und Scheitel zu einen harmonischen Ganzen. Ganz besonders muss die Vorstellungskraft (yi) und das qi mit der jin-Kraft verbunden sein. So entsteht außen der Ausdruck natürlicher, reiner Gewandtheit. Dieses Können ist dann echte Leichtigkeit, sonst wäre es künstliche und nicht richtige Leichtigkeit.


Wenn man mit dem Lernen der Partnerübungen beginnt, sind oft, obwohl man mit beiden Händen den Partner nur sehr leicht berührt, die eigenen Schultern steif und der Körper ist nicht entspannt. So erreicht man keine wirkliche Leichtigkeit und man kann auch kein Verständnis für Leichtigkeit und Gewandtheit entwickeln. Die Leichtigkeit beim Pushhands ist oft eine relative und keine absolute. Es ist Können (gongfu), dass man durch Leichtigkeit erreicht. Man erlangt es nur durch langfristiges, hartes Training. Der Grad der Leichtigkeit hängt von der Tiefe des Könnens ab. Durch tiefes Können erreicht man: „Eine Feder kann nicht hinzugefügt werden. Eine Fliege kann sich nicht niederlassen.“


Bezüglich des Lernens sagt man, nur so kann man beginnen beim Kämpfen keine Kraft zu verwenden. Zum Beispiel darf bei einer Handbewegung die verwendete Kraft nicht das Maß an Kraft übersteigen, die man dafür unbedingt benötigt. Wenn man beim Pushhands durch den Anderen bezwungen wird, liegt das hauptsächlich an der Kraft in den eigenen Händen oder dem eigenen Körper, die durch den Anderen wissentlich verwendet wird. Ein Mensch der wenig Können besitzt, gibt zwar selbst keine Kraft ab, kann aber doch durch den Anderen dazu verleitet werden. 


Im Wu-Stil Taijiquan wird deswegen immer wieder der Vorrang des weichen Neutralisierens betont. Aber dieser wichtige Grundsatz wird von den Schülern gerne ignoriert. Dagegen wird oft mit großer Freude gegen den Anderen drückt. Das ist eine wesentliche Ursache, durch die der Fortschritt behindert wird. Tatsächlich kommt zuerst das Neutralisieren, dann das Abgeben, denn das Neutralisieren ist die Voraussetzung dafür. Am besten ist es, nur zu Neutralisieren. Man muss danach nicht abgeben. Neutralisieren und loslassen ist oft besser, als selbst loszuschlagen, denn beim Abgeben offenbart man zu leicht die eigene Kraft. 


Selbst auf Dauer sind alte Gewohnheiten nur schwer zu ändern. Kunstfertigkeit im Taijiquan ist nicht leicht zu erreichen. Um es selbst ein wenig zu beherrschen, braucht es tiefgehender Erfahrung und Praxis. Für das Üben von Leichtigkeit ist ein wichtiger Schlüssel, dass man beim Üben ständig auf „Benutze die Vorstellungskraft und nicht die körperliche Kraft“ achtet. Ob bei der Form oder beim Pushhands, man muss sein Bestes tun, um die Vorstellungskraft führen zu lassen.


Weil die Leichtigkeit etwas ist, gibt es in der Leichtigkeit auch Substanz. Sie ist bestimmt nicht ohne jedes sein, sowie ein Stein, der im Meer versinkt, ohne Schatten, ohne Spur. Es ist, wie wenn man z.B. pengjin [elastische jin-Kraft] ausführt. Man muss kurz etwas sinken und so die Kraft des Anderen hervortreten lassen. Dann setzt man die ganze jin-Kraft ein und bewegt sich ein wenig in Richtung der kommenden Kraft. So kann man den Anderen kontrollieren und den Zustand „Auch wenn man extrem belastet wird, ist das gleiten nicht schwer“ erreichen. Pengjin ist eine Methode, die Kraft des Anderen auszukundschaften. Damit ist es auch jin-Kraft fühlen (tingjin), eine jin-Kraft, die man auch beachten muss.


Der entscheidende Punkt ist, dass man in der Leichtigkeit auch Voll (shi) und Leer (xu) findet. Voll und Leer sind der Kern des Taijiquan. Dies bezüglich sind „kleben, verbinden, anhaften und folgen“ auch einfach eine Anwendung des Wandels von Voll und Leer. Zusammenfassend kann man sagen, dass die Leichtigkeit ein wichtiger Bestandteil des Taijiquan und damit ein Ausdruck seines Könnens ist. 


Das oben gesagte habe ich ein wenig in der Praxis erfahren, aber ich schäme mich tief, denn ich bin nicht immer den Unterweisungen und Forderungen meines Lehrers gefolgt. Daher war dies auch kein richtiges Training und so kann die Theorie kaum Früchte tragen. Die Bedeutung der Leichtigkeit habe ich letztlich nur unzureichend verstanden. Ich wünsche und bitte daher alle Freunde des Taijiquan um Unterweisung und Korrektur.