Taijiquan üben und der Blick


Von Chen Juewu

Aus dem Vereinsmagazin Nr. 4, S. 3 der Jianquan Taijiquan Association Shanghai vom 15.1.1982


Ich bin im Jahre 1900 geboren. Jetzt bin ich 82 Jahre alt. Von klein auf beschäftigte ich mich in meinem Heimatort mit den geliebten Bewegungen der Kampfkunst. 1923 zog ich von Guangdong nach Shanghai. Ab 1928 begann ich, bei Wu Jianquan und Ma Yueliang Taijiquan zu erlernen. Dies ist nun mehr als 50 Jahre her und ich trainiere seitdem ohne Unterbrechung. Ich habe das sichere Gefühl, dass ich daraus großen Nutzen gezogen habe. Ganz gleich ob im Gehen, Erinnern, Sehen oder Hören, ich bin in jeder Hinsicht sehr gesund. Gleichzeitig kann ich jeden Tag in den Park gehen und Taijiquan-Liebhabern Unterstützung geben. Dies ist auch ein guter Beweis für die Gesundheitswirkung des Taijiquan.


Das Trainieren des Taijiquan ist dem Kalligraphieren sehr ähnlich. Wenn man zu lernen beginnt, muss man regelmäßig an der Form arbeiten. Es ist, als ob man die großen Schriftzeichen der Normalschrift kopiert. Man muss erreichen, dass die Kopie der Vorlage gleicht. Die Körperhaltung und der Blick müssen korrekt sein. Die Hände teilen sich in yin und yang und die Füße in Voll und Leer. Die äußere Form hat überall Gehalt, aber man muss vermeiden, sich unnatürlich und geziert zu verhalten. Jetzt möchte ich ein wenig darüber sprechen, dass man beim Training des Taijiquan auf den Blick achten muss, denn dies wird von den Schülern zu leicht übersehen. 


Der Blick ist ein Ausdruck des Herzens/Bewusstseins (xin). Die Regungen des Bewusstseins spiegeln sich im Blick wieder. Beim Üben des Taijiquan ist die Lebenskraft natürlich konzentriert, der Kopf ist nicht gesenkt oder gehoben und man schaut nicht umher. Wenn man gerade steht, ist die Blickrichtung ungefähr 45 Grad nach unten. Wenn man beim Üben der Form Arme und Beine bewegt, muss man dabei Oben und Unten bedenken und Außen und Innen vereinen. Während dessen folgt der Blick den Wandlungen des Körpers und der Hände, genau wie bei der Kalligraphie, wo die Augen ganz auf die Spitze des Pinsels konzentriert sind. So kann man den Bewegungen der jin-Kraft und des Bewusstseins Ausdruck verleihen, seine Bewegungen korrigieren und Abweichungen vermeiden. 


Ein jeder Mensch, der um Ruhe und Frieden zu finden beim Taijiquan-Üben die Augen schließt, macht einen prinzipiellen Fehler. Man kann dann leicht die Balance verlieren, die Bewegungen lösen sich von ihrer Form und man kann sie nicht sofort verbinden. Man wird beim Üben der Form unvermeidlich träge und faul. Der Blick ist mit dem Bewusstsein koordiniert und folgt den Wandlungen des Körpers und der Hände. Diese Praxis ist auch eine Art Übung für den Blick. Es lässt ihn lebendig und agil reagieren, steigert die Sehkraft und im hohen Alter wird man nicht so schwerfällig und unbeholfen aussehen. 


Taijiquan ist eine innere Kampfkunst. Trotzdem ist es eine Kampfkunst und eine Form der Selbstverteidigung. Deswegen muss man bei der Anwendung ein Ziel im Auge haben. Wenn man den Anderen schlagen möchte,  ist – ohne dass man noch etwas dazu sagen müsste – der Blick von größter Bedeutung. Wenn man beim Pushhands „die günstige Gelegenheit und den strategischen Vorteil" erreicht hat, braucht man gelegentlich nur noch kurz blicken und der andere fühlt sich bedroht und fällt leicht hin. Der Blick ist beim Kämpfen von wichtiger Natur. Ich wünsche allen, die Taijiquan üben, dass sie großen Wert auf den Blick legen, ernsthaft trainieren und nicht nachlässig werden. Man muss dabei aber darauf achten, dass man einen natürlichen Ausdruck behält und sich nicht, wie die Schauspieler der Pekingoper, übermäßig in Positur setzt.